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Friedensvertrag, Freude, doch kein Kuchen? – Der kolumbianische Friedensprozess



Zusammenfassung von Julia Nassl


Das Friedensabkommen vom 24.11.2016 sollte eine Zäsur darstellen für ein Land, in dem über 50 Jahre ein schwerer Bürgerkrieg zwischen Militär und linksgerichteten Guerillagruppen tobte. Doch was hat sich seitdem in Kolumbien getan? Ging mit dem Friedensabkommen tatsächlich eine Demobilisierung und soziale Wiedereingliederung der Guerilleros, eine Befriedung der Gesellschaft, kurz: ein Ende der Gewalt einher? Konnten strukturelle Probleme, die erst den Nährboden für den Jahrzehnte lang schwelenden Konflikt bereiteten, gelöst werden? Stefan Reith, Leiter des Auslandsbüros Kolumbien der Konrad-Adenauer-Stiftung, zog für uns eine Zwischenbilanz.

Der Bürgerkrieg hat bezifferbare Spuren in der kolumbianischen Gesellschaft hinterlassen: rund 250 000 Kolumbianer:innen verloren ihr Leben, knapp 165 000 wurden Opfer vom „Verschwindenlassen“, 10 000 von Folter, 34 000 von Entführungen und mehr als sieben Millionen wurden zu Binnenvertriebenen und Flüchtlingen.[1] Den Weg hin zum langersehnten nachhaltigen und langfristigen Frieden skizziert nun das Friedensabkommen zwischen kolumbianischer Regierung und der größten Guerillagruppe FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo, dt.: Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) vor. Es verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz, will nicht nur Waffenstillstand und Demobilisierung der Guerilleros erreichen, sondern gerade die sozioökonomischen Ursachen ausmerzen, die einst überhaupt erst das Erstarken der FARC ermöglichten. Die Landverteilung zugunsten weniger Großgrundbesitzer etwa. Die staatliche Abwesenheit in den ländlichen Regionen, oder auch das Entwicklungsgefälle zwischen Stadt und Land.

Mehr staatliche Präsenz in der Peripherie, ländliche Entwicklung als echte Alternative zu den illegalen Ökonomien – diese Faktoren bedingen den Erfolg des Friedensabkommens und sichern diesen ab. Zwar verlief die Demobilisierung durchaus erfolgreich – 13 500 Ex-Kämpfer:innen gelten mittlerweile als demobilisiert.[2] Doch diese Zahl verrät freilich nicht, wie viele Guerilleros tatsächlich den Weg zurück ins zivile Leben gefunden haben, also sozial re-integriert sind. Denn solange die ländliche Entwicklung nicht vorangetrieben wird, treibt die Perspektivlosigkeit, die schiere Existenzangst die Ex-FARC-Guerilleros in die illegalen Ökonomien anderer Guerillabewegungen – v.a. Bergbau und Kokaplantagen. Die sog. Espacios Territoriales de Capacitación y Reintegración (ETCR; dt.: Räume für Weiterbildung und Reintegration) schaffen Räume, Ex-FARC-Kämpfer:innen in die legale Ökonomie zu überführen – die kolumbianische Regierung kauft hierzu Land auf und stellt dieses zur landwirtschaftlichen Um- und Weiterbildung zur Verfügung. Diese Projekte erreichen jedoch nur ein Drittel der Guerilleros. Zusätzlich sollen die sog. PDETs (Programas de Desarollo con Enfoque Territorial; dt.: Entwicklungsprogramme für ausgewählte Regionen) sollen gezielt die Entwicklung von stark vom bewaffneten Konflikt betroffenen Regionen vorantreiben. Wegen ihrer chronischen Unterfinanzierung fehlt den PDETs noch die gewünschte Schlagkraft.

Was feststeht, ist, dass seit 2018 die Gewalt in den entlegenen Regionen wieder zunimmt – Zielscheibe sind vor allem sog. lideres sociales, also gesellschaftliche Führungspersonen wie Menschenrechts- oder Umweltaktivist:innen, Interessenvertreter:innen von afroamerikanischen oder indigenen Minderheiten und andere Akteur:innen, die sich den Guerillagruppen entgegenstellen, aber auch Ex-Guerilleros. Aggressoren sind Guerillabewegungen wie das Ejército de Liberación Nacional (ELN; dt.: Nationale Befreiungsarmee), die das Friedensabkommen nicht unterzeichnet haben, und sog. disidentes, also Splittergruppen der FARC, die das Friedensabkommen von Anfang an ablehnten und eigene FARC-Ableger gründeten. Zu den bekanntesten Köpfen der disidentes zählt Iván Márquez; 2019 wurde ein Video publik, in dem die ehemalige Nummer Zwei der FARC das Friedensabkommen für gescheitert erklärte und seine Wiederbewaffnung ankündigte. Zwar gilt seine Bewegung nach finanziellen und personellen Rückschlägen seit 2021 als gescheitert. Sie offenbart jedoch die Unzufriedenheit auch seitens der FARC mit der Umsetzung des Abkommens und die damit verbundene Fragilität des Friedens.

Neben dieses Umsetzungsdefizit tritt zudem ein Legitimationsdefizit. Nachdem ein Entwurf für ein Friedensabkommen 2016 in einem Plebiszit knapp gescheitert war, setzte die damalige kolumbianische Regierung unter Santos Änderungen vor und unterzeichnete das abgeänderte Abkommen – ohne neuerliche Volksbefragung.

Diesen demokratischen Geburtsfehler machen sich verschiedenste politische Kräfte in Kolumbien zunutze, um die Mechanismen des Friedensabkommens anzugreifen und weiter zu delegitimieren – allen voran der kolumbianische Präsident Iván Duque, der insbesondere die Institution der kolumbianischen Übergangsjustiz, die Jurisdicción Especial para la Paz (JEP), immer wieder zu schwächen versucht. So kürzte er 2020 das Jahresbudget der JEP erneut und meldete Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Statuts der JEP an. Aber auch die mangelnde Umsetzung der Sicherheitsgarantien für Ex-FARC-Anhänger lässt sich auf diesen politischen Unwillen zurückführen.

Solche Querschüsse aus den vordersten Reihen der kolumbianischen Führungsriege, so Reith, setzten den Friedensprozess aufs Spiel. Gleichsam greife es zu kurz, darin nur politischen Opportunismus zu sehen. Denn v.a. aus militärischer und sicherheitspolitischer Sicht, aber auch aus Opferperspektive setzt die Straflosigkeit zugunsten zahlreicher Ex-Guerilleros auch ein nicht zu unterschätzendes Negativsignal; in diesem Sinne bemühe sich Duque um eine umfassende Aufklärung der Verbrechen der Guerilla, sog. paz con legalidad.

Angesichts dieser Ambivalenz der Regierung Duques fungieren die Ende Mai 2022 stattfindenden Parlaments­ und Präsidentschaftswahlen auch als Stimmungsbarometer für die Zufriedenheit der kolumbianischen Gesellschaft mit dem Friedensabkommen und seiner Umsetzung; Umfragen zeigen jedoch, dass die rechtskonservativen Kräfte für ihren das Friedensabkommen diskreditierenden Kurs abgestraft werden könnten.

Sicherlich, Kolumbien hat in den vergangenen Jahren wichtige Wegmarken hin zu einem nachhaltigen und langfristigen Frieden erreicht. Es gilt mittlerweile als solide Demokratie und ist drittwichtigste Wirtschaftskraft in Lateinamerika. Es ist „globaler Partner“ der NATO und laut Reith auch für Deutschland ein wichtiger (Werte-)Partner in der Region. Allerdings ist die soziale Ungleichheit nach wie vor stark ausgeprägt und wurde durch die COVID-19-Pandemie nochmals verstärkt – pessimistische Stimmen gehen davon aus, dass die letzten zwei Pandemiejahre Entwicklungsfortschritte des Landes um Jahre zurücksetzen könnten.

Angesichts dessen sind gemeinsamen Anstrengungen aller Stellen der staatlichen Gewalt und der Zivilgesellschaft noch dringender notwendig, um die bisherigen Erfolge des Friedensprozesses gegen Rückschläge abzusichern, weiter zu konsolidieren, mithin unumkehrbar zu machen.

Dafür sind auch im kolumbianischen Kontext Mechanismen der Übergangsjustiz entscheidend – das Friedensabkommen sieht dafür die Jurisdicción Especial para la Paz (JEP; dt.: Sondergerichtsbarkeit für den Frieden) vor. Am 22.03.2022 um 18 Uhr sprechen wir daher via Zoom mit Prof. Dr. iur. John Zuluaga LL.M., der schwerpunktmäßig zum kolumbianischen Übergangsjustizsystem forscht, über den rechtlichen Hintergrund der JEP, ihre Wirkkraft und die an diese gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen für den weiteren kolumbianischen Friedensprozess. Seid also gespannt auf Teil II unserer Veranstaltungsreihe zu Kolumbien!





Weiterführende Literatur:


Reith, Stefan, Zwischenbericht zu fünf Jahren Friedensabkommen, 2021:

https://www.kas.de/de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/zwischenbilanz-mit-licht-und-schatten(ausführlicher Bericht, für alle, die es nicht zum Vortrag geschafft haben)

UN Verification Mission in Colombia, Report of the Secretary-General, 27.12.2021: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/S_2021_1090_E.pdf

Stahn, Carsten/Iverson, Jens, Just Peace After Conflict: Jus Post Bellum and the Justice of Peace, 2020 (ausführliche Einordnung des kolumbianischen Friedensabkommens ins völkerrechtliche ius post bellum)



Vorbereitende Literatur zur Jurisdicción de la Paz (JEP):

Morales, Andres, The rocky road to peace: current challenges at the Special Jurisdiction for Peace in Colombia, EJIL Talk, Mai, 2021, abrufbar unter: https://www.ejiltalk.org/the-rocky-road-to-peace-current-challenges-at-the-special-jurisdiction-for-peace-in-colombia/

Quintero, Rocio, Three major challenges the Special Jurisdiction for Peace in Colombia faces, Opinio Iuris, 2020, abrufbar unter: http://opiniojuris.org/2019/07/30/three-major-challenges-the-special-jurisdiction-for-peace-in-colombia-faces/

Vargas Niño, Santiago, When a Preliminary Examination Closes, a New Era Opens: The OTP’s Innovative Support for Transitional Justice in Colombia, Opinio Iuris, Dezember 2021, abrufbar unter: http://opiniojuris.org/2021/12/02/when-a-preliminary-examination-closes-a-new-era-opens-the-otps-innovative-support-for-transitional-justice-in-colombia/


[1] Romero, César (2018): 262.197 muertos dejó el conflicto armado, in: Noticias Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH) (02.08.2018), https://centrodememoriahistorica.gov.co/262-197-muertos-dejo-el-conflicto-armado/ (abgerufen am 22.02.2022) [2] United Nations Verification Mission in Colombia (2021): Report of the Secretary General, S/2021/824, Rd.Nr. 61 (24.09.2021), https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/S_2021_824_E.pdf (abgerufen am 22.02.2022).

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